Bibliolog für säkular orientierte Menschen

In den letzten Jahren ist mir bei säkularen Menschen ein zunehmendes Interesse an religiösen und spirituellen Themen aufgefallen. Sie möchten „mehr über Religion wissen, ohne religiös werden zu müssen“, womit gemeint ist, dass sie nicht von religiösen Konzepten oder Institutionen vereinnahmt werden wollen. Ich treffe auf Menschen, die so säkular geprägt sind, dass sie noch nie eine Bibel in der Hand hatten, noch nie in irgendeinem Gottesdienst waren und noch nie bewusst einen biblischen Text gehört haben.

Sie möchten mehr über das Judentum wissen, über Feiertage, Erzähltraditionen, jüdische Frauengeschichte. Manche Gesprächsanlässe und Mini-Bibliologe haben sich beim Kaffeetrinken nach einem Stadtrundgang „ergeben“. Für manche ist ein literarisches Interesse der Ausgangspunkt, entweder die Bibel als wichtiges Werk der Weltliteratur an sich oder als Vorlage für literarische Werke („Joseph und seine Brüder“). Andere wollen die Mythen und Geschichten kennen lernen und verstehen, die unsere Kultur prägen. Immer wieder wird auch das Interesse benannt, sich Kunstwerke erschließen zu können – sei es in Museen oder an Fassaden oder in Innenräumen von Kirchen.

Bibliolog wird bei dieser Zielgruppe durchgängig sehr gut angenommen, egal ob die Gruppe sich ausschließlich aus säkularen Zeitgenossen zusammensetzt oder ob auch Menschen, die mit biblischen Inhalten vertraut sind, teilnehmen.

Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Bibliolog bei Menschen, die nicht mehr mit biblischen Texten vertraut sind, so gut ankommt:

Bibliolog setzt nichts voraus: Niemand muß Vorkenntnisse mitbringen. Es wird keine Vertrautheit mit Texten vorausgesetzt und auch schauspielerisches Talent ist nicht erforderlich. Gerade das nimmt den Menschen, die sich religiösen Themen annähern, viel Druck. Sie müssen keine Vorleistungen erbringen. Sie können sich nicht blamieren, denn:

Es gibt keine falschen Beiträge. Gerade das wird von vielen säkularen Teilnehmerinnen und Teilnehmern als befreiend erlebt und ermöglicht ihnen, sich in den Text hineinzubegeben und zu experimentieren. Oft sind sie im Nachgespräch erstaunt, wie viel sie eingebracht haben und wie ihre Beiträge von anderen aufgenommen und weitergeführt wurden.

Jede Perspektive wird respektvoll behandelt und hat gleiche Gültigkeit. Gerade die Unterschiedlichkeit der Perspektiven wird als bereichernd erlebt und benannt. Insider sind mit ihrem Vorwissen nicht im Vorteil, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass gerade dies für manche religiös geprägten Menschen schwierig ist. Bibliolog fördert nicht nur Diversität, sondern lebt geradezu davon.

Jede und jeder kann im Prozess bestimmen, ob und in welchem Ausmaß er oder sie sich einbringen möchte. Bibliolog ermöglicht ein sehr unterschiedliches Ausmaß, sich einzubringen. Wenn jemand „nur“ zuhören möchte, ist das auch in Ordnung. Jede und jeder bestimmt selber Nähe und Distanz zum Text als Ganzen als auch zu einzelnen Personen, Passagen und Perspektiven. In den verschiedenen Abschnitten eines Bibliologs ist ein unterschiedliches Ausmaß an aktiver Teilnahme bzw. Rückzug möglich.

Bibliolog zeigt, dass biblische Texte für immer neue Auslegungen offen sind:
Für die Teilnehmenden ist deutlich, dass Auslegung ein Prozess ist und diese eine Geschichte, an deren Auslegung sie teilhaben zu einer anderen Zeit in einem anderen Kontext zu einer anderen Auslegung führen wird. Deshalb erlebe ich Bibliolog als sehr hilfreich, um zu erleben, dass nach Ansicht der jüdischen Hermeneutik jede Generation die Texte neu auslegen muss.

Bibliolog schafft eine Erzähl- und Auslegungsgemeinschaft: Bibliolog schafft eine Verbindung zwischen dem Individuum und der Gruppe. Für viele ist diese Erfahrung, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die einen Text auslegt und gestaltet, etwas sehr Besonderes und Wertvolles.

Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich Monate später auf Bibliologe angesprochen werde, wie viel säkulare Teilnehmende, für die es eine Erstbegegnung mit dem Text und oft auch mit biblischer Tradition insgesamt war, von der Textgestalt und auch von Beiträgen anderer Teilnehmender behalten haben. Die ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bringen zum Ausdruck, wie sehr sie es schätzen, dass sie Texte kennen lernen konnten, eigene und fremde Perspektiven erlebt haben und nicht „zugetextet“ oder „bepredigt“ worden sind.

Aus diesen unterschiedlichen Aspekten, ergibt sich, worauf bei einem Bibliolog mit säkularen Teilnehmenden besonders zu achten ist: Man kann nicht wenig genug voraussetzen!

Wer einen Bibliolog anleitet, muss sehr sensibel mit Sprache umgehen. „Der Auszug aus Ägypten“ kann nur noch bei wenigen Menschen als bekannt vorausgesetzt werden. Deshalb muss bei der Hinführung sehr darauf geachtet werden, Begriffe, Bilder und Konzepte, die nur Insidern bekannt sind, zu umschreiben. Ob die richtige Sprachebene getroffen wird oder nicht, entscheidet letztlich darüber, ob alle Teilnehmenden eingeschlossen sind oder nicht, ob der Bibliolog „inklusiv“ oder „exklusiv“ ist. Ein säkularer Zeitgenosse wird mit einem „Pharisäer“ eher ein alkoholisches Getränk in Verbindung bringen als einen „Weisheitslehrer“ zur Zeit Jesu, unabhängig davon, dass dieser Begriff auch für kirchliche Insider problematisch aufgeladen ist und Stereotypen transportiert.

Bei säkularen Menschen, die zum ersten Mal einem biblischen Text begegnen oder zum ersten Mal einen Bibliolog erleben, empfiehlt es sich, sich auf die Grundtechniken des Echoing und Interviewing zu beschränken, da ansonsten zu viele unterschiedliche Impulse verarbeitet werden müssen. Hier gilt der Grundsatz: Weniger ist mehr.

Besondere Aufmerksamkeit sollte der Auswertungsrunde gelten. Hilfreich ist dabei eine Fragestellung, die offen lässt, in welcher Reihenfolge darüber gesprochen wird, was inhaltlich neu war und was die Teilnehmenden mit sich und der Gruppe erlebt hat. Auch hier gilt: Alle entscheiden selbst, ob und in welchem Ausmaß sie das eigene Erleben mitteilen. Wichtig ist auch hier, dass der Anleitende jeder Äußerung mit Wertschätzung begegnet. Hier ist auch der Ort, um Fragen zum Bibliolog als Methode zu klären.
Auch bei Bibliologen mit säkularen Teilnehmern kann man im Anschluss mit anderen kreativen Methoden (Schreiben, Bildgestaltung) arbeiten. Wichtig ist beim Kombinieren verschiedener kreativer Zugänge, dass keine Überfrachtung an Methoden stattfindet.

Mich haben Bibliologe mit säkularen Menschen sehr bereichert. Da mir durch den unverstellten Zugang dieser Teilnehmer ganz neue Fragehorizonte eröffnet worden sind, bin ich sehr dankbar für Bibliolog als Methode, die Menschen ganz unterschiedlicher kultureller, religiöser und altersmäßiger Herkunft zusammenbringt. In besonderer Weise habe ich hier erlebt, wie viel wir voneinander lernen können.

Erstveröffentlichung in: TextRaum 14/26 (2007), 35-36

Iris Weiss (www.berlin-juedisch.de) arbeitet in der Erwachsenenbildung zu jüdischen Themen und bietet Rundgänge zum jüdischen Berlin an.

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