Literaturhinweis: Lolita lesen in Teheran

oder: Was ist Rezeptionsästhetik?

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Ist es ein Sachbuch oder ist es ein Roman? „Lolita lesen in Teheran“ von Azar Nafisi schaffte es beim Erscheinen in die Bestsellerlisten beider Kategorien. Es ist ein Buch über das Lesen, Verstehens- und Verständigungsprozesse in einem totalitäten Regime. Es ist moderne Literaturtheorie und zeigt auf höchst spannende und eindrückliche Weise, was „Rezeptionsästhetik“ ist. Und das ist die Verbindung, warum ich dieses Buch auf dem Bibliolog-Weblog empfehle.

Dieser aus der Literaturwissenschaft stammende Ansatz hat in den letzten Jahren Eingang in die Theologie gefunden – besonders im Hinblick auf die Predigt (Homiletik) und hilft zur theoretischen Fundierung dessen, was im Bibliolog geschieht. Die zentrale Frage der Rezeptionsästhetik ist: Was passiert zwischen dem Text und den Lesenden? Wie verläuft der Prozeß des Verstehens und Aneignens? Die Rezeptionsästhetik verabschiedet die Vorstellung, daß es einen (Kommunikations-)Inhalt gibt, der vom Sender zum Empfänger vermittelt wird und diese Botschaft wird von allen in gleicher Weise verstanden – außer wenn es Kommunikationsstörungen gibt.

Die Rezeptionsästhetik geht davon aus, daß die Bedeutung des Textes nicht festgelegt ist, sondern im Rezeptionsprozeß angeeignet wird, und zwar bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich. Der Text läßt Leerstellen und Zwischenräume. Und diese ermöglichen es, sich in schöpferischer Weise mit eigenen Erfahrungen auf den Text zu beziehen, quasi die eigenen Erfahrungen einzutragen. Dies ist ein kreativer Prozeß, in dem sich der Empfänger der Botschaft sein Textverständnis erschafft. Es passiert also eine kreative Produktion des Textes. Dabei ist das, was bei unterschiedlichen Lesern zustande kommt, unterschiedlich aber nicht beliebig. Der Text hat Grenzen – eine Art Textfeld. Und im zunehmenden Verlauf des Erzählgeschehens werden bestimmte Möglichkeiten ausgeschlossen oder auch neue eröffnet..

Wenn ich eine Gruppe bitte, mir biblische Geschichten zu nennen, in denen Wasser vorkommt, könnte die Sammlung folgendermaßen aussehen: Jona, Noah und die Arche, Schöpfungsgeschichte, die Hochzeit von Kana, Taufe Jesu im Jordan, die Teilung des Schilfmeers, Moses schlägt Wasser aus dem Felsen, der wunderbare Fischfang, Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße, der Schiffbruch des Paulus, Jakobs Kampf am Jabok, die Heilung des Naaman, die Taufe des Kämmerers, der Engel findet Hagar an einer Wasserquelle, Petrus geht auf dem Wasser, der Durchzug der Israeliten durch das Meer, Jona …

Wenn ich dann nach biblischen Geschichten frage, in denen Wasser und ein Schiff oder etwas bootähnliches vorkommt, dann grenzt das die Zahl der möglichen Geschichten ein: Arche Noah, wunderbarer Fischfang, Jesus beruft Fischer, Schiffbruch des Paulus, Jona. Wenn ich nun zum Wasser und dem Schiff noch den Regenbogen dazunehme, so grenze ich die möglichen Texte noch weiter ein.

Nun zum Buch von Azar Nafisi: die Autorin ist im Iran geboren, verbringt ihre Schul- und Studienzeit im Ausland und kehrt 1979 nach Teheran zurück um an der Universität Literatur zu lehren. In den 1990iger Jahren muß sie die Universität verlassen, weil sie sich weigert, den Tschador zu tragen. Mit einigen Studentinnen trifft sie sich regelmäßig, um Klassiker westlicher Literatur zu lesen: „Lolita“ von Nabokov, Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald, „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen usw. Diese Bücher, in denen Eheleute einander betrügen, in denen ein Mann eine Minderjährige verführt, in denen selbständige eigenwillige Frauen ihr Leben in die Hand nehmen, eine solche Literatur widerspricht islamischen Moralvorstellungen und kann, als Ausgeburt des dekadenten Westens, in der islamischen Republik Iran nicht geduldet werden. Es könnte ja sein, dass muslimische Studierende in diesen dekadenten und unmoralischen Figuren Vorbilder sehen. Azar Nafisi erzählt die Lebensgeschichten ihrer Studentinnen, wie diese die Lektüre aufnehmen, welche Fragen sich daraus für sie stellen und was das für ihr Leben unter den totalitären Bedingungen des Iran bedeutet. Sie öffnen sich in der Diskussion über die literarischen Werke und beginnen die eigene Realität, der gegenüber sie sich lange sprachlos und ohnmächtig fühlten, zu hinterfragen und zu verändern. Immer wieder fügt die Autorin Rückblenden ein, wie unterschiedliche Studenten reagierten als sie noch an der Universität lehren konnte.

Zu den besten 20 Seiten gehört „der Prozess der Islamischen Republik Iran gegen den großen Gatsby“ im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Autorin. Ein Student hatte behauptet, „der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald sei ein unsittliches, Ehebruch und Geldgier propagierendes Buch, das verboten gehöre. Azar Nafisi schlug ihm daraufhin ein Seminar in der Form einer Gerichtsverhandlung vor, bei der der Angeklagte nicht der Autor, sondern das Buch selbst sein sollte. In diesem Prozeß wird deutlich, welche Rolle Literatur im besten Fall spielen kann. Dies ist direkt übertragbar auf den Prozeß bibliologischen Arbeitens.

Abgesehen davon erfährt man viel über die Lebensbedingungen – insbesondere von Frauen unter der iranischen Revolution und zu Zeiten des Iran-Irak-Krieges. 1997 hat Azar Nafisi den Iran verlassen und lebt heute in den USA.

Nafisi, Azar: Lolita lesen in Teheran, Goldmann-Verlag, München 2008, 9,95 421 Seiten

Ergänzung::
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