Ein Ostergruß der anderen Art auch für und an die Mitlesenden dieses Blogs
Liebe S.,
am Samstag war ich wieder beim Frühstück in der Naunynstraßen – Wohngemeinschaft, wo wir uns vor einiger Zeit begegnet sind. Und was soll ich sagen: Erstmals war auch Christian Herwartz da. Ich war ganz perplex, denn immer wenn ich in den letzten eineinhalb Jahren kam, war er unterwegs. Ich habe mit einem Ohr zugehört als er jemand an seiner Erfahrung mit den Exerzitien auf der Straße teilhaben ließ. Ich sah Parallelen zu meiner Bibliolog-Erfahrung. Er meinte , wenn Leute sich auf den Prozeß der Straßenexerzitien einlassen, dann erlebt man auch als Begleiter immer wieder neue Perspektiven.
Ich unterhielt mich länger mit einem jungen Südamerikaner, der aus Berlin weggezogen ist und sich an seinem neuen Wohnort in den neuen Bundesländern, wo Busse nur unter der Woche und untertags fahren, sehr isoliert fühlt. Danach kam ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, die ein freiwilliges soziales Jahr gemacht hat bei Solwodi, einer Anlaufstelle für Frauen, die von Menschenhandel und oft auch von Zwangsprostitution betroffen sind.
Eine Frau hatte Fotos dabei, die sie am Karfreitag von der Mahnwache vor dem Abschiebegefängnis in Köpenick aufenommen hatte. Es waren zwei große gekreuzte Holzbalken. Auf dem Kreuzungspunkt liegt eine Dornenkrone, in deren Mittelpunkt ein Kelch steht. Die Dornenkrone spiegelt sich im Kelch (hier).
Nach diesem reich gefüllten Vormittag machte ich mich auf den Weg in den Grunewald. Ich war zu einem Bibliolog für einen Oasentag eingeladen. Von Kreuzberg nahm ich den Bus, der über den Wittenbergplatz zum Bahnhof Zoo fährt. Zwischen Wittenbergplatz und Gedächtniskirche war die Straße brechend voll von Menschen, die zum Einkaufen unterwegs waren. Auch das ist eine Seite, die säkulare Seite, von Karsamstag: Offene Kaufhäuser für die, die zwischen Karfreitag und Ostersonntag einkaufen wollen. Und es trifft anscheinend das Bedürfnis von vielen.
Ich stieg dann in die S-Bahn um zur S-Bahnstation Grunewald zu fahren und dann den Fußweg zu nehmen, der in den Eichkamp, eine Siedlung im Grunewald, die einige Minuten von der S-Bahntrasse entfernt liegt. Dort hatten sich einige Leute aus dem Umfeld der Naunynstraßen WG einen Oasentag organisiert und mich zu einem Bibliolog eingeladen. Wir saßen in einem wunderschönen blühenden Garten und der Text, den ich mitgebracht hatte, paßte überhaupt nicht zu dieser wunderschönen und friedlichen Umgebung wie sie sich auf den ersten Blick darstellte.
Wenn man am S-Bahnhof Grunewald ankommt und den Ausgang auf der rechten Seite von Berlin aus kommend nimmt, dann kommt man in den Eichkamp. Dort lebten vor der Nazizeit viele Juden. Es gab auch eine jüdische Privatschule dort, die Jugendliche auf die Emigration vorbereitete. Im Eichkamp war auch der einzige Sportplatz, auf dem jüdische Kinder und Jugendliche Sport treiben konnten und wo jüdische Sportfeste stattfanden und die beiden jüdischen Sportvereine Bar Kochba und Makkabi die letzte für Juden verbliebene Möglichkeit war, sportlichen Aktivitäten nachzugehen. Heute ist die Sportanlage nach dem jüdischen Fußballnationalspieler Julius Hirsch und dem Quizmaster Hans Rosenthal benannt. Das war mir sehr gegenwärtig. Auf dem Weg zu dem Haus, wo das Treffen sein sollte, ging ich auch an zwei Stolpersteinen vorbei, die an Juden die dort gewohnt hatten und deportiert worden waren, erinnern: Dr. Max Spittel und seine Frau Berta Spittel. Ich war vorher noch nie im Eichkamp gewesen, obwohl auch dieser Teil Berlins zu meiner inneren Landkarte gehört.
Wenn man den S-Bahn-Grunewald aber auf der linken Seite verläßt, dann kommt man nach etwa 100m zum „Gleis 17“ (Grunewaldrampe). Das ist heute eine Gedenkstätte. Es ist das Gleis, von dem die meisten der fast 59 000 deportierten Berliner Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden. (Es gibt in Berlin zwei Deportationsbahnhöfe: Putlitzstraße in Moabit und Grunewald – also Gleis 17).
Gleis 17 (© M. Eun)
Ich habe schon oft Überlebende oder Kinder von jüdischen Emigranten an diesem Ort begleitet und einige dort auch zusammenbrechen sehen unter der Last ihrer Geschichte. Auf Gleis 17, das ins Nichts führt sind in den Boden Eisenschwellen eingelassen, auf denen das jeweilige Datum und der Bestimmungsbahnhof des Deportationszuges zu lesen sind. Ich habe vor 15 Jahren dazu einen Text geschrieben.
Erst am Freitag als ich den Anfahrtsweg go.ogelte wurde mir klar, in welcher Nähe der Oasentag stattfinden würde. Für mich war das dann sehr präsent und einen Moment lang hätte ich lieber abgesagt. Ich habe das, was für mich sehr gegenwärtig war, allerdings den Teilnehmenden nicht erzählt. Ich wollte es diesen großenteils sehr jungen Menschen, die ich kaum oder gar nicht kannte, nicht zumuten. Als ich G. und R. im Vorfeld fragte, ob sie für den Tag einen bestimmten Text im Auge hätten, meine R. vielleicht etwas aus Johannes 19 (ökumenischer Lesetext von Gründonnerstag bis Karsamstag) aber sie seien auch für anderes offen. Nun sind Texte aus dem Johannesevangelium für Bibliolog-Anfänger (und auch für Anleitende) oft sehr schwierig und ich wußte, daß etwa drei Leute schon Vorerfahrungen mit Bibliolog haben.
Zwischen dem Begräbnis von Jesus am Ende von Kapitel 19 des Johannesevangeliums und der Auferstehungserfahrung in Kapitel 20 erzählt das Johannesevangelium nichts – auch nicht die anderen Evangelien. Hier bleibt eine Lücke. Die christliche Tradition hat diese Lücke später bei einem Konzil gefüllt mit der Formulierung, die heute im christlichen Glaubensbekenntnis gesprochen wird: Hinabgestiegen in das Reich des Todes.
So habe ich mich gefragt, wo es eine Geschichte in der Bibel gibt, die uns bei der Annäherung an diese Lücke hilft, wo die Erfahrung des Karsamstag (Todesnähe, Verwundbarkeit, Ausgesetzt sein, Schmerz, Verlassenheit, Klagen, Schreien) sich spiegeln oder verdichten. Ich habe sie in der Verteibung von Hagar und Jischmael (Genesis 21, 8 – 19) gefunden. Aber ob ich das den Teilnehmenden zumuten kann? Andererseits: Wenn ein Oasentag auf dem Karsamstag fällt, dann liegt es eigentlich nahe die Grundthemen dieses Tages aufzunehmen und sich in irgend einer Form darauf zu beziehen.
Wir haben uns also vorwiegend aus der Perspektive der Hagar an das Geschehen angenähert mit Fragen zu folgenden Grunderfahrungen in der Geschichte:
– Abwertung und Verrat (Sarah spricht abschätzig über Hagar und Jischmael, der rechtlich ihr Sohn ist)
– Forderung von Sarah an Abraham ihre Sklavin Hagar in die Wüste (in den Tod) zu schicken
– Ausgestossen sein in die Wüste – Herumirren – ausgesetzt sein – verwundbar sein
– vom Weinen Hagars und vom Schreien Jischmaels
– Im Angesicht des Todes (Jischmael unter dem Busch und Hagar in Sichtweite)
– Hagars Augen werden geöffnet und der Brunnen in der Wüste wird sichtbar
Besonders nah ging mir im anschließenden Austausch der Beitrag eines Teilnehmers, der den Bibliolog schweigend vollzogen hat: „Der Brunnen mit dem Wasser war die ganze Zeit da – auch wenn Hagar ihn noch nicht sehen konnte“. Ich denke, das ist ein Schlüsselsatz, um nicht – fast hätte ich geschrieben „im Vordergründigen“ – hängenzubleiben. Aber Leiden ist niemals nur „vordergründig“.
Ich habe dadurch verstanden, was Alfred Delp (SJ) gemeint haben könnte, wenn er im Gefängnis vor seiner Hinrichtung in Plötzensee schrieb:
„Die Welt ist Gottes voll. Aus allen Poren quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir oft gesucht haben“.
Ich habe mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen können, was mit „Brunnenpunkt“ gemeint sein könnte (eine Wortschöpfung von Delp). Und oft erscheint es mir das Reden von Christen, die von Ostern sprechen und daß es ohne Karfreitag keine Auferstehung gäbe, eher als eine Art Sprachhülle. Es ist schwer Karsamstag, in dem ja der Karfreitag nachklingt, auszuhalten.
Im Rückblick bin ich mir unsicher, ob ich den Teilnehmenden am Oasentag nicht zuviel zugemutet habe.
Nun ist dieser kurze Gruß doch etwas länger geworden und ich wünsche Dir gesegnete Ostern
Wir Juden beginnen heute abend den siebten Tag von Pessach – ein besonderer Tag, weil nach der jüdischen Tradition an diesem Tag der Durchzug durch das Rote Meer geschah. Das Meer teilte sich erst als Nachschon, der als erster ins Wasser gegangen ist, bis zum Hals im Wasser stand. Beim nächsten Schritt – so erzählt der Midrasch – wäre er versunken wenn nicht die Wasser zurückgewichen wären.
Herzliche Grüße
I.
Im Nachhinein denke ich, daß ich mit einer Gruppe, die ich kenne und die mich kennt, den Bibliolog am Gleis 17 machen würde.
Zum Weiterlesen noch ein Artikel vom Theosalon-Blog, der mich bei der Bibliolog-Vorbereitung inspiriert hat:
Mein Vertrauter ist nur noch Finsternis – Mit Wolfgang Herrndorf Karfreitag verstehen