Nachruf: Gabriele Krüger

Kennengelernt habe ich sie im Sommer vor zwei Jahren. Sie interessierte sich für den interreligiösen Bibliolog-Grundkurs im Sprengelhaus und fragte per Mail an, ob die Räume barrierefrei und für sie als Rollstuhlfahrerin geeignet seien. Kurz danach kam sie zum Bibliolog-Abend im Rahmen der „langen Nacht der Religionen“ und meldete sich für den Grundkurs an. Für mich war es eine ganz neue Erfahrung, wie sie mit ihrer schweren Körperbehinderung und der Unterstützung ihrer Assistenten ihren eigenen Zugang entwickelte und ihre eigene Bibliologmethodik erarbeitete. Gelegentlich hat sie in ihrer Kirchengemeinde im Seniorenkreis und im Familiengottesdienst Bibliolog angeleitet.

So oft es ihr möglich war, hat sie an der interreligiösen Bibliolog-Werkstatt und an der Bibliolog-Regionalgruppe oder auch an den Bibliolog-Treffen in Neukölln teilgenommen. Oft hat sie Details und Perspektiven eingebracht, die anderen nicht aufgefallen waren und so dem Austausch eine neue Wendung gegeben. Im November 2014 ist sie unerwartet verstorben. Sie fehlt uns sehr. Ich habe mich sehr gefreut, daß der Tagesspiegel heute einen Nachruf veröffentlicht hat, der sehr berührend ist und hier nachgelesen werden kann.

Nachruf im Tagesspiegel

Zwischen Karsamstag und Ostern …

Ein Ostergruß der anderen Art auch für und an die Mitlesenden dieses Blogs

Liebe S.,

am Samstag war ich wieder beim Frühstück in der Naunynstraßen – Wohngemeinschaft, wo wir uns vor einiger Zeit begegnet sind. Und was soll ich sagen: Erstmals war auch Christian Herwartz da. Ich war ganz perplex, denn immer wenn ich in den letzten eineinhalb Jahren kam, war er unterwegs. Ich habe mit einem Ohr zugehört als er jemand an seiner Erfahrung mit den Exerzitien auf der Straße teilhaben ließ. Ich sah Parallelen zu meiner Bibliolog-Erfahrung. Er meinte , wenn Leute sich auf den Prozeß der Straßenexerzitien einlassen, dann erlebt man auch als Begleiter immer wieder neue Perspektiven.

Ich unterhielt mich länger mit einem jungen Südamerikaner, der aus Berlin weggezogen ist und sich an seinem neuen Wohnort in den neuen Bundesländern, wo Busse nur unter der Woche und untertags fahren, sehr isoliert fühlt. Danach kam ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, die ein freiwilliges soziales Jahr gemacht hat bei Solwodi, einer Anlaufstelle für Frauen, die von Menschenhandel und oft auch von Zwangsprostitution betroffen sind.

Eine Frau hatte Fotos dabei, die sie am Karfreitag von der Mahnwache vor dem Abschiebegefängnis in Köpenick aufenommen hatte. Es waren zwei große gekreuzte Holzbalken. Auf dem Kreuzungspunkt liegt eine Dornenkrone, in deren Mittelpunkt ein Kelch steht. Die Dornenkrone spiegelt sich im Kelch (hier).

Nach diesem reich gefüllten Vormittag machte ich mich auf den Weg in den Grunewald. Ich war zu einem Bibliolog für einen Oasentag eingeladen. Von Kreuzberg nahm ich den Bus, der über den Wittenbergplatz zum Bahnhof Zoo fährt. Zwischen Wittenbergplatz und Gedächtniskirche war die Straße brechend voll von Menschen, die zum Einkaufen unterwegs waren. Auch das ist eine Seite, die säkulare Seite, von Karsamstag: Offene Kaufhäuser für die, die zwischen Karfreitag und Ostersonntag einkaufen wollen. Und es trifft anscheinend das Bedürfnis von vielen.

OsterglockeIch stieg dann in die S-Bahn um zur S-Bahnstation Grunewald zu fahren und dann den Fußweg zu nehmen, der in den Eichkamp, eine Siedlung im Grunewald, die einige Minuten von der S-Bahntrasse entfernt liegt. Dort hatten sich einige Leute aus dem Umfeld der Naunynstraßen WG einen Oasentag organisiert und mich zu einem Bibliolog eingeladen. Wir saßen in einem wunderschönen blühenden Garten und der Text, den ich mitgebracht hatte, paßte überhaupt nicht zu dieser wunderschönen und friedlichen Umgebung wie sie sich auf den ersten Blick darstellte.

Wenn man am S-Bahnhof Grunewald ankommt und den Ausgang auf der rechten Seite von Berlin aus kommend nimmt, dann kommt man in den Eichkamp. Dort lebten vor der Nazizeit viele Juden. Es gab auch eine jüdische Privatschule dort, die Jugendliche auf die Emigration vorbereitete. Im Eichkamp war auch der einzige Sportplatz, auf dem jüdische Kinder und Jugendliche Sport treiben konnten und wo jüdische Sportfeste stattfanden und die beiden jüdischen Sportvereine Bar Kochba und Makkabi die letzte für Juden verbliebene Möglichkeit war, sportlichen Aktivitäten nachzugehen. Heute ist die Sportanlage nach dem jüdischen Fußballnationalspieler Julius Hirsch und dem Quizmaster Hans Rosenthal benannt. Das war mir sehr gegenwärtig. Auf dem Weg zu dem Haus, wo das Treffen sein sollte, ging ich auch an zwei Stolpersteinen vorbei, die an Juden die dort gewohnt hatten und deportiert worden waren, erinnern: Dr. Max Spittel und seine Frau Berta Spittel. Ich war vorher noch nie im Eichkamp gewesen, obwohl auch dieser Teil Berlins zu meiner inneren Landkarte gehört.

Wenn man den S-Bahn-Grunewald aber auf der linken Seite verläßt, dann kommt man nach etwa 100m zum „Gleis 17“ (Grunewaldrampe). Das ist heute eine Gedenkstätte. Es ist das Gleis, von dem die meisten der fast 59 000 deportierten Berliner Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden. (Es gibt in Berlin zwei Deportationsbahnhöfe: Putlitzstraße in Moabit und Grunewald – also Gleis 17).

Gleis 17 (© M. Eun)

Gleis 17 (© M. Eun)

Ich habe schon oft Überlebende oder Kinder von jüdischen Emigranten an diesem Ort begleitet und einige dort auch zusammenbrechen sehen unter der Last ihrer Geschichte. Auf Gleis 17, das ins Nichts führt sind in den Boden Eisenschwellen eingelassen, auf denen das jeweilige Datum und der Bestimmungsbahnhof des Deportationszuges zu lesen sind. Ich habe vor 15 Jahren dazu einen Text geschrieben.

Erst am Freitag als ich den Anfahrtsweg go.ogelte wurde mir klar, in welcher Nähe der Oasentag stattfinden würde. Für mich war das dann sehr präsent und einen Moment lang hätte ich lieber abgesagt. Ich habe das, was für mich sehr gegenwärtig war, allerdings den Teilnehmenden nicht erzählt. Ich wollte es diesen großenteils sehr jungen Menschen, die ich kaum oder gar nicht kannte, nicht zumuten. Als ich G. und R. im Vorfeld fragte, ob sie für den Tag einen bestimmten Text im Auge hätten, meine R. vielleicht etwas aus Johannes 19 (ökumenischer Lesetext von Gründonnerstag bis Karsamstag) aber sie seien auch für anderes offen. Nun sind Texte aus dem Johannesevangelium für Bibliolog-Anfänger (und auch für Anleitende) oft sehr schwierig und ich wußte, daß etwa drei Leute schon Vorerfahrungen mit Bibliolog haben.

Zwischen dem Begräbnis von Jesus am Ende von Kapitel 19 des Johannesevangeliums und der Auferstehungserfahrung in Kapitel 20 erzählt das Johannesevangelium nichts – auch nicht die anderen Evangelien. Hier bleibt eine Lücke. Die christliche Tradition hat diese Lücke später bei einem Konzil gefüllt mit der Formulierung, die heute im christlichen Glaubensbekenntnis gesprochen wird: Hinabgestiegen in das Reich des Todes.

So habe ich mich gefragt, wo es eine Geschichte in der Bibel gibt, die uns bei der Annäherung an diese Lücke hilft, wo die Erfahrung des Karsamstag (Todesnähe, Verwundbarkeit, Ausgesetzt sein, Schmerz, Verlassenheit, Klagen, Schreien) sich spiegeln oder verdichten. Ich habe sie in der Verteibung von Hagar und Jischmael (Genesis 21, 8 – 19) gefunden. Aber ob ich das den Teilnehmenden zumuten kann? Andererseits: Wenn ein Oasentag auf dem Karsamstag fällt, dann liegt es eigentlich nahe die Grundthemen dieses Tages aufzunehmen und sich in irgend einer Form darauf zu beziehen.

Wir haben uns also vorwiegend aus der Perspektive der Hagar an das Geschehen angenähert mit Fragen zu folgenden Grunderfahrungen in der Geschichte:

– Abwertung und Verrat (Sarah spricht abschätzig über Hagar und Jischmael, der rechtlich ihr Sohn ist)
– Forderung von Sarah an Abraham ihre Sklavin Hagar in die Wüste (in den Tod) zu schicken
– Ausgestossen sein in die Wüste – Herumirren – ausgesetzt sein – verwundbar sein
– vom Weinen Hagars und vom Schreien Jischmaels
– Im Angesicht des Todes (Jischmael unter dem Busch und Hagar in Sichtweite)
– Hagars Augen werden geöffnet und der Brunnen in der Wüste wird sichtbar

Besonders nah ging mir im anschließenden Austausch der Beitrag eines Teilnehmers, der den Bibliolog schweigend vollzogen hat: „Der Brunnen mit dem Wasser war die ganze Zeit da – auch wenn Hagar ihn noch nicht sehen konnte“. Ich denke, das ist ein Schlüsselsatz, um nicht – fast hätte ich geschrieben „im Vordergründigen“ – hängenzubleiben. Aber Leiden ist niemals nur „vordergründig“.

Ich habe dadurch verstanden, was Alfred Delp (SJ) gemeint haben könnte, wenn er im Gefängnis vor seiner Hinrichtung in Plötzensee schrieb:

„Die Welt ist Gottes voll. Aus allen Poren quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir oft gesucht haben“.

Ich habe mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen können, was mit „Brunnenpunkt“ gemeint sein könnte (eine Wortschöpfung von Delp). Und oft erscheint es mir das Reden von Christen, die von Ostern sprechen und daß es ohne Karfreitag keine Auferstehung gäbe, eher als eine Art Sprachhülle. Es ist schwer Karsamstag, in dem ja der Karfreitag nachklingt, auszuhalten.

Im Rückblick bin ich mir unsicher, ob ich den Teilnehmenden am Oasentag nicht zuviel zugemutet habe.

Nun ist dieser kurze Gruß doch etwas länger geworden und ich wünsche Dir gesegnete Ostern

Wir Juden beginnen heute abend den siebten Tag von Pessach – ein besonderer Tag, weil nach der jüdischen Tradition an diesem Tag der Durchzug durch das Rote Meer geschah. Das Meer teilte sich erst als Nachschon, der als erster ins Wasser gegangen ist, bis zum Hals im Wasser stand. Beim nächsten Schritt – so erzählt der Midrasch – wäre er versunken wenn nicht die Wasser zurückgewichen wären.

Herzliche Grüße

I.

Im Nachhinein denke ich, daß ich mit einer Gruppe, die ich kenne und die mich kennt, den Bibliolog am Gleis 17 machen würde.

Zum Weiterlesen noch ein Artikel vom Theosalon-Blog, der mich bei der Bibliolog-Vorbereitung inspiriert hat:
Mein Vertrauter ist nur noch Finsternis – Mit Wolfgang Herrndorf Karfreitag verstehen

Im Raum der Kirche: Du – Sie – Kurs-Du ?

Im KirchengeschichtenKirchengeschichten-Blog, das von einem ehemaligen Kursteilnehmer von mir befüllt wird, finden sich Überlegungen zum Thema Vom „Du“ auf und unter der Kanzel in den evangelischen Kirchen in Deutschland und Schweden. Ich habe in den Kommentaren meine Beobachtungen und meine unmaßgebliche – außenstehende – Sicht zum Kurs-Du beschrieben.

Blogvirus: 20 facts about …

Es gibt ja kaum noch einen Blog, der nicht mit “20 facts about …” aufwartet. Jetzt hat der Blogvirus auch dieses Blog erwischt: Hier also meine “20 facts about bibliolog and me”:

1. Eigentlich … bin ich nach meiner Bibliodramaausbildung in einer interreligiösen Gruppe mit großer Skepsis nach Bad Segeberg gefahren, wo Peter Pitzele 2003 den ersten Grundkurs durchführte, weil ich wissen wollte, was es mit dieser etwas anderen Art von Bibliodrama aus Amerika auf sich hat. Zurückgekommen bin ich dann mit großer Begeisterung.

2. Diesem „Bibliodrama als Midrasch“ – wie es damals noch hieß – eilte der Ruf voraus, es sei direktiv und leiterzentriert (Gaaanz schlecht! Ganz schlecht!). Der Unterton, der dabei mitschwang, machte deutlich, daß das nicht positiv gemeint war. Dass die Leitungsrolle anders ist als beim Bibliodrama stimmt, jedoch werden dadurch Möglichkeiten eröffnet, die das Bibliodrama wie wir es in Deutschland kennen, so nicht hat.

3. Inzwischen nehme ich selbst zwar noch gelegentlich an Bibliodrama-Angeboten teil biete es aber nur noch gelegentlich an unter dem Motto „Bibliolog meets Bibliodrama“.

4. Der erste Bibliolog, den ich erlebt habe, spielte im Garten Eden (Genesis 3: Eva und die Schlange). Meinen ersten eigenen Bibliolog drei Tage später habe ich über meine damalige Lieblingsgeschichte – einem unter Christen weitgehend unbekannten Text – angeleitet, nämlich die fünf Töchter des Zelofchad (4. Buch Mose 27,1-11 Num 27,1-11).

5. Wegen ihrer relativen Unbekanntheit nehme ich diese Geschichte immer wieder gern als Einstiegsbibliolog bei Grundkursen, weil dadurch auch Menschen, die mit der Bibel vertraut sind, in die Situation vieler Gemeindemitglieder kommen, wenn sie mit diesem für die meisten unbekannten Text unterwegs sind.

6. Mein längster Bibliolog dauerte neun Stunden – von 10.00 Uhr bis 21.00 Uhr mit Mittagspause (eine Stunde) und zwei Kaffeepausen. Es ging um den Lebenslauf Abrahams von seiner ersten Erwähnung (Genesis 11 / 1 Buch Mose Kapitel 11) bis zu seinem Tod. Neben der Grundform habe ich dabei auch mit Objekten (Stühlen) und Encounter sowie unterschiedlichen kreativen Elementen gearbeitet.

7. Die größte Gruppe mit der ich Bibliolog gemacht habe bestand aus etwa 160 Teilnehmenden auf dem Kirchentag in Dresden 2011 im jüdischen Gemeindezentrum zum 1. Kapitel vom Buch Ruth. (Ergänzung: Zwei Jahre später beim evangelischen Kirchentag in Stuttgart war ich an der Eröffnungsveranstaltung vom Forum Bibliodrama / Bibliolog beteiligt und habe einen Bibliolog mit über 200 Teilnehmenden angeleitet mit polnischer Übersetzung).

8. Der Oktober 2013 – er ist noch nicht vorbei – ist voraussichtlich der erste Monat seit ich Bibliolog kenne, in dem ich keinen Bibliolog anleite.

9. Meine höchste Bibliolog“frequenz“ hatte ich im Sommer vor zwei Jahren mit 24 Bibliologen in einem Monat.

10. Einen einzigen Bibliolog habe ich bis jetzt abgebrochen und zwar in der Anfangsphase, weil ein psychisch kranker Teilnehmer ständig die Äußerungen der anderen kommentierte und zensierte und sich davon nicht abbringen ließ. Nachdem ich ihm deutlich gemacht habe, daß dies nicht geht und er deswegen den Ort des Geschehens verließ, habe ich nochmals begonnen und wir hatten einen guten Abend.

11. Ich halte Bibliologe auf Deutsch, Englisch und Französisch. In diesen Sprachen bilde ich auch aus.

12. Mein spätester oder frühster Bibliolog – je nach Betrachtungsweise – fand morgens um 3.30 h statt, beim nächtlichen Lernen zu Schawuot (tikkun leil schawuot) in der Synagoge Oranienburger Straße. Das war zugleich auch mein bisher schwierigster Bibliolog, weil wir alle schon sehr müde waren, keiner der Teilnehmenden Bibliologerfahrung hatte und der teilnehmende Kantor nach meiner ersten Frage an Moses, der am Brunnen von Midian saß als erster sagte: „Aber Frau Weiss, so können Sie diese Frage doch nicht stellen, denn Mosche hatte doch als Prophet ein total anderes Alltagsbewußtsein als wir.

13. Mein frustrierendster Bibliolog war mit 80 Hauptamtlichen eines Kirchenkreises, die Bibliolog kennenlernen wollten und mich zur Mitarbeiterkonferenz eingeladen hatten. Die Rahmenbedingungen waren nicht wie abgesprochen, d.h. der Raum war nicht vorbereitet, es gab kein schnurloses Mikrofon und vor der Tür im Inneren des Gemeindezentrums waren permanent tobende Kinder der kirchlichen Kindertagesstätte zugange. Als beim Nachgespräch über den ersten Bibliolog (der 12jährige Jesus im Tempel) eine Pfarrerin beanstandete, daß ich mit meiner Frage an den 12jährigen Jesus „eine Sünde gegen den heiligen Geist“ (was immer das ist?) begangen hätte, rollte ich innerlich mit den Augen – und nicht nur das. Im Nachhinein finde ich, ich hätte die ganze Geschichte abbrechen sollen und mich dem nicht aussetzen sollen.

14. Der schrägste Ort, an dem ich bis jetzt Bibliolog angeleitet habe, war beim Kirchentag im Köln. Veranstaltungsort des Zentrums Christen und Juden war der Gürzenich, eine Festhalle in der Kölner Altstadt (Ich sage nur: Karneval !!!). Mir war ein großer Saal ohne Fenster im Keller zugeteilt mit ganz vielen Vitrinen in denen Karnevalsdekorationen, und Karnevals-„Devotionalien“ ausgestellt waren. Jedem Gruftie hätte das Herz höher geschlagen bei dieser etwas morbiden Atmosphäre. (Mehr dazu hier)

15. Die Teilnehmergruppe mit dem breitesten kulturellen Spektrum hatte ich diesen Sommer beim Grundkurs in Frankreich mit Teilnehmenden, die aus Frankreich, Deutschland, Belgien, der Schweiz, Norwegen, Kamerun und Belgisch Kongo stammten.

16. Mein spontanster Bibliolog fand im Rahmen einer Tagung zum Thema „Spiritualität und Heilung“ in der evangelischen Akademie in Hofgeismar statt. Peter und Susan Pitzele und ich beschlossen spontan zum ersten Abend von Pessach für unsere Kleingruppe einen Pessachseder anzubieten. Die Erzählung der Exodus-Geschichte gestalteten Peter und ich spontan als Bibliolog. Das war auch der erste Bibliolog, den ich zusammen mit jemand anderem durchgeführt habe. (Mehr dazu hier)

17. Die religionsfernste Gruppe mit der ich bis jetzt Bibliolog erlebt habe, war eine Gruppe von Mädchen und jungen Frauen in einem Ostberliner Mädchenzentrum. Die über zwanzig Teilnehmerinnen wollten mehr über jüdische Frauen heute wissen und wie wir uns als Jüdinnen auf unsere Religion beziehen. Eine Teilnehmerin hatte Konfirmandenunterricht erlebt und eine weitere schon mal eine Bibel in der Hand gehabt. Bei allen anderen war nichts an Vorkenntnissen oder Vorerfahrungen da.

18. Meine erste Gruppe nach meiner Trainerinnen-Ausbildung mit der ich alleinverantwortlich einen Bibliolog-Grundkurs durchgeführt habe, waren Pfarrer und Pfarrerinnen aus dem Kirchenkreis Lennep (Rheinland). Meine TrainerkollegINNen haben mich gewarnt und mir sehr davon abgeraten. Ein Kirchenkreis – da habe man gleich noch die ganzen Arbeits- und sonstigen Konflikte mit auf dem Tisch. Das war entgegen der Voraussagen nicht der Fall. Der Kurs lief gut und hat den Teilnehmenden offenbar sehr gefallen, denn ein Jahr später traten sie in gleicher Besetzung (16 Leute!) zum Aufbaukurs „nicht-narrative Texte“ an. Ich habe inzwischen mit weiteren Kirchenkreisen Grundkurse durchgeführt und nie die vorausgesagten Probleme gehabt. Das mag aber auch daran liegen, daß ich als jüdische Trainerin von außen einen anderen Zugang habe.

19. Meine bisher größte bibliologische Herausforderung war – nein, nicht der Grundkurs in Frankreich – sondern:
– in fachlicher Hinsicht: die Ausbildung einer Bibliologin, die auf den Elektrorollstuhl und auf Assistenz angewiesen ist und ihre rechte Hand nur wenig bewegen kann
– in menschlicher Hinsicht: Bibliolog im Hospiz

20. Mein bisher unerfüllter Bibliolog-Wunsch: Ein Vertiefungskurs „Bibliolog und Heilungs-Psalmen“ (fünf Tage) mit kreativen Elementen aus meiner Kunsttherapieweiterbildung in einem katholischen Kloster mit benediktinischen Stundengebeten. (Arbeitstitel: Bringing psalms to life). Das Konzept ist schon fertig. Die meisten Elemente habe ich schon ausprobiert, aber es gibt noch keine Fortbildungseinrichtung, die das machen will.

Sonst noch Fragen? (Falls ja: Bitte Kommentarfunktion nutzen)

Darf DER das? Darf DIE das?

Buchcover Zealot

Buchcover Zealot

oder genauer gefragt: Darf ein Muslim (DER) das? beziehungweise: Darf eine Jüdin (DIE) das? Derzeit ist ein Jesus-Buch auf Platz 1 der Sachbuchbestsellerlisten in den USA. Geschrieben hat es Reza Aslan, ein Religionswissenschaftler und Muslim. Letzte Woche wurde er in Fox-News, einer wichtigen Nachrichtensendung dazu interviewt. Die Interviewerin hatte – wenn überhaupt – das Buch nur flüchtig gelesen. Sie unterstellte dem Verfasser er könne ein solches Buch als Muslim nur aufgrund von Vorurteilen gegen das Christentum schreiben. Von ihrer Linie ließ sie sich nicht abbringen. Es sei das peinlichste Interview von Fox-News gewesen, das jemals gesendet wurde, sind sich die wichtigen amerikanischen Medien einig. Auch in der deutschen Presse fand der Vorfall bereits einige Echos. So schrieb die Frankfurter Rundschau unter der Überschrift „darf ein Muslim das?“ am 2. August:

Das Jesus-Buch des Religionssoziologen Reza Aslan bringt Amerikas Konservative auf – immerhin äußert sich da ein Muslim über den Inbegriff des Christentums. Dass er dies äußerst fundiert tut, ist offenbar egal. Warum sollte ein Muslim ein Buch über Jesus schreiben? Ja, darf er das überhaupt? Ist er nicht zu beladen mit Vorurteilen? Mit solchen Fragen muss sich derzeit der angesehene Religionssoziologe Reza Aslan auseinandersetzen, dessen Buch „Zealot. The Life and Times of Jesus of Nazareth“ diese Woche in den USA erschienen ist. Ausgangspunkt der Kontroverse ist ein kurzer Text auf der Website des erzreaktionären Fernsehsenders FoxNews, in dem der Reporter John S. Dickerson kurzerhand fälschlich behauptet, Aslan und die linken Mainstream-Medien verheimlichten, dass er ein gläubiger Muslim sei. Das Buch sei keine historische Abhandlung, sondern lediglich „die Meinung eines gebildeten Muslims über Jesus“, das historische Vorurteile des Islam über den Messias verbreite… weiter hier

Das eigentliche Unbehagen an dem Buch seitens konservativer christlicher Kreise in den USA dürfte damit zusammenhängen, daß es – wie der Titel „Zealot … “ aussagt, Jesus mit den Zeloten, einer radikalen Gruppierung zur Zeit Jesu in Zusammenhang bringt, deren Exponenten durchaus gewalttätig sein konnten (mehr dazu hier.

Interessant ist daran, daß einem muslimischen Autor, der die fachliche Kompetenz hat, ein solches Buch zu schreiben in dem Moment diese Kompetenz abgesprochen wird, in dem er eine Definition der dominanten Gruppe – nämlich die der Angehörigen der christlichen Mehrheit – in Frage stellt.

In den englischsprachigen Ländern kamen vor inzwischen gut 15 Jahren im Bereich der „Ethnic Studies“ Diskussionen zur Fragestellung: „What do they tell about us“? Gemeint ist damit, was Angehörige der Mehrheitskultur („they“) über Minderheiten („us“) sprechen: Was wird wie erzählt, was wird verschwiegen, verdrängt und ausgeblendet. Welche Bilder und Stereotypen über Minderheiten werden weitergegeben? Welche Machtverhältnisse spiegeln sich in den Darstellungsweisen? Wenn sich aber Angehörige von Minderheiten das Recht nehmen, sich zu Sachverhalten zu äußern, welche die Angehörigen der dominanten Gruppe als „ihres“ betrachten, dann wird darauf reagiert, daß derjenige, der in der Minderheitenposition ist „dequalifiziert“ wird. (Darf der das – kann der das?). Birgit Rommelspacher, eine emeritierte Professorin hat diesen Mechanismus sehr anschaulich in ihrem Buch „Dominanzkultur“ analysiert.

Auch mir ist die Erfahrung nicht fremd. Wenn ich – meist – an evangelischen Fortbildungseinrichtungen Bibliolog-Kurse anbiete, dann wird explizit darauf hingewiesen, daß die Leitung „christlich-jüdisch besetzt“ ist. Alle Teilnehmenden wissen also vor dem Kurs, worauf sie sich einlassen. Ich bekomme sehr positive Rückmeldungen gerade auch im Hinblick darauf, wieviel sie davon mitnehmen, wenn bei den Texten, die erarbeitet werden auch eine jüdische Sichtweise eingebracht wird.

Schwierig wird es gelegentlich – durchaus nicht immer – wenn ich jemanden sagen muß, daß er / sie (noch) kein Zertifikat bekommen kann, weil die Fähigkeiten, die im Zertifikat bestätigt werden, beim Vorstellen des eigenen Bibliologs nicht (ausreichend) deutlich wurden. Ich erinnere mich noch deutlich, wie perplex ich war als dann eine Pfarrperson mit den Worten reagierte: „Das dürfen Sie nicht. Als Jüdin können Sie gar nicht beurteilen, ob das, was ich gemacht habe, gut oder schlecht ist. Sie müssen mir das Zertifikat geben.“ Wir haben dann ein sehr ausführliches Gespräch darüber geführt, daß es nicht um christliche Glaubensinhalte geht, über die ich mir ein Urteil erlaube, sondern, daß ich als Ausbilderin darauf schaue, wie der Bibliolog erarbeitet wurde und ob die methodischen Fertigkeiten, die wir eingeübt haben auch fachgerecht zum Einsatz kommen.

Auch in jüdischen Medien gibt es einige Artikel zum Jesusbuch von Reza Aslan, z.B. im Jewish Journal: Jesus, the Jew – Reza Aslan looks at the historical figure, before he became Christ.

Nachtrag (16. Dezember):
Inzwischen ist das Buch auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Zelot – Jesus von Nazareth und seine Zeit“. Das Kulturmagazin ttt – titel, thesen, temperamente hat darüber berichtet.

Sonntags um zehn: Israelsonntag im Berliner Dom

Letzten Sonntag war „Israelsonntag“. Beim evangelischen Gottesdienst im Berliner Dom wirkten Rabbiner Henry Brandt und Kantorin Avitall Gerstetter mit. Die Jüdische Allgemeine berichtet in ihrer heutigen Ausgabe darüber unter dem Titel: „Schalom von der Kanzel. Auch im Tagesspiegel fand dieser Gottesdienst in der Reihe
Sonntags um zehn Beachtung unter der Überschrift: „Hoffnung auf einen neuen Himmel Im Dom feierten Christen und Juden zum ersten Mal gemeinsam Gottesdienst“. Meine kritischen Überlegungen zu dieser vereinnahmenden Berichterstattung habe ich niedergeschrieben. Sie sind auf meinem – ursprünglichen – Erstblog, das durch eine längere Tiefschlafphase zum Zweitblog wurde, nachzulesen – und zwar hier.

Du öffnest die Bücher und sie öffnen dich …

Du öffnest die Bücher und sie öffnen dich. (Dschingis Aitmatov) So wird der Schriftsteller oft zitiert. Im Netz habe ich den Zusammenhang des Zitats gefunden:

„Удивительной силой обладают книги большого художника. Ты открываешь их, а они тебя…“ Чингиз Айтматов, Высказывания о творчестве Мухтара Ауэзова.
„Die Bücher eines großen Schriftstellers besitzen eine erstaunliche Macht. Du öffnest sie, und sie öffnen dich…“
Ich hoffe, das stimmt so, denn die Orginalsprache beherrsche ich nicht, und ich würde auch nicht – wie das verkürzte Zitat oben es nahelegt – sagen, daß alle Bücher eine/n öffnen.

Selbst wenn man die Bibel „nur“ als große Literatur sieht, gibt dieser Satz von Aitmatiov eine Richtung an, für die ich im jüdischen Schriftverständnis eine Parallele finde.

Kinderbibelausgaben in einer Bibliothek

Ein Rabbiner aus meinem Bekanntenkreis stellt den Jugendlichen, die er auf die Bar oder Bat Mizwa vorbereitet und die sich dafür mit einem bestimmten Wochenabschnitt aus der Torah (5. Bücher Mose) vorbereiten, immer die folgende Frage: „So what is this Torah saying about you? When has this Torah you’re telling me about been a part of your life?“ Mit „this Torah“ ist genau der Abschnitt gemeint, mit dem sich die Jugendlichen durch intensive Vorbereitung etwa ein Jahr lang auseinandersetzen. Es ist insofern auch „ihre Torah“ als die Bar oder Bat Mizwa am Schabbat nach dem 13. (bei Jungen) bzw. 12. (bei Mädchen) Geburtstag stattfindet. Man weiß also schon bei der Geburt eines Menschen, was sein / ihr Text sein wird. Und auch Menschen, die keine Bar / Bat Mizwa-Feier haben konnten, schauen gern nach, welches „ihre“ Parascha (Wochenabschnitt) ist.

Ich finde, daß diese Rabbiner-Frage etwas sehr Öffnendes hat: Wann hast Du erlebt, daß dieser Text ein Teil Deines Lebens war, etwas mit Dir zu tun hatte. Diese Frage kann man im Grund genommen zu jedem Bibeltext stellen, mit dem man sich beschäftigt oder sich diese Frage vom Bibeltext stellen lassen. Das ist es auch, was Bibliolog ermöglicht und eröffnet: Wir finden den Text in uns und uns im Text.