Heute sind die Erinnerungen an einnen Pessach-Seder sehr präsent, den ich vor fünf Jahren erlebt habe. Schon einige Tage vorher war ich nach Hofgeismar gefahren, um an einem Workshop „Bibliolog mit Masken“ mit Peter und Susan Pitzele teilzunehmen.
Direkt an dieses Seminar schloß sich eine große Tagung über „Heilung und Spiritualität“ an. Es gab ganztägige Workshops, an denen unterschiedliche Ansätze vorgestellt wurden. Peter und Susan Pitzele waren eingeladen worden, ihren Bibliotherapy-Ansatz vorzustellen. Bibliotherapy bezieht – im Unterschied zu Bibliolog – Selbsterfahrung in den Gruppenprozeß ein, ist aber im Unterschied zu den meisten Formen des Bibliodramas in Deutschland – näher am biblischen Text. Jede/r Teilnehmende identifiziert sich über einen längeren Prozeß mit einer selbst gewählten biblischen Figur. Dieser Identifikationsprozeß wird über unterschiedliche kreative Zugänge (Masken, Bilder, Schreiben etc.) in der Form von Einzelarbeit angeleitet und gefördert und später in einem Gruppenprozeß zusammengeführt. Da am Abend dieses Workshoptages das Pessachfest beginnen sollte, bot es sich an, den Anfang der Exodus-Geschichte vom Auszug aus Ägypten zugrundezulegen.
Ich kenne Peter und Susan seit 2003 und bin mit beiden befreundet. Mir war deswegen klar, daß Peter bei der Anfrage aus Hofgeismar nicht im Blick hatte, daß das Seminar genau zu Pessach liegen würde. Der Workshop endete früh genug um in eine nahe gelegene jüdische Gemeinde zu fahren um dort am Seder teilzunehmen. Die Workshop-Gruppe war sehr klein – wahrscheinlich weil der Workshop auf englisch lief. Überraschend schnell – wie ich fand – war eine Offenheit und Vertrautheit in der Gruppe wie ich sie nicht in dieser kurzen Zeit des Kennens erwartet hätte.
Schon am Morgen hatten Peter und Susan gemeint, daß sie sich nicht sicher seien, ob sie am Abend weg wollten aus Hofgeismar. Sollen wir vielleicht versuchen zu Dritt für uns in Hofgeismar einen Seder zu machen? Am Ende des Vormittags stimmten wir uns ab, daß wir den Teilnehmerinnen an der Gruppe (es waren lauter Frauen) anbieten wollten – soweit sie wollten – nach dem Workshop den Seder miteinander vorzubereiten und zu feiern. Die Küche konnte uns vegetarisches Essen zur Verfügung stellen und durch die recht lange Mittagspause konnte ich alles besorgen, was sonst noch benötigt wurde (Mazzen, Zutaten für Charosset …).
Die Teilnehmerinnen wollten alle dabei sein und halfen den Raum vorzubereiten. Wir bekamen die Bibliothek, in der wir schon den ganzen Tag gearbeitet hatten. Susan hatte eine englischsprachige und ich eine deutschsprachige Haggada. Abgesprochen war, daß wir die Erzählung vom Auszug aus Ägypten als Bibliolog gestalten würden. Besser gesagt war ich davon ausgegangen, daß Peter dies tun würde. Von daher war ich völlig perplex als wir am Tisch saßen und Peter ankündige, daß wir beide jetzt zusammen mit der Gruppe einen Bibliolog zum Auszug aus Ägypten machen würden. Wir saßen an dem langen Tisch an den beiden weit voneinander entfernten Enden gegenüber und verständigten uns über Blickkontakt, wer wann eine Frage stellt, erzählt und weitergeben oder übernehmen möchte. Durch die Vergegenwärtigung im Bibliolog kam uns die Geschichte unglaublich nahe. Es war eine sehr intensive Erfahrung mit Bibliolog in dieser Gruppe, die sich nur schwer in Worte fassen läßt. Wie nie zuvor wurde mir deutlich, was es bedeutet, daß wir Pessach nicht nachfeiern, weil unsere Vorfahren aus Agypten ausgezogen sind, sondern daß wir selber aufbrechen, daß es um eine Befreiung aus der Sklaverei geht (welche auch immer – das definiert jede/r für sich) und der Beginn eines Transformationsprozesses ist.
Ich habe nie zuvor und nie danach einen so intensiven Pessach-Seder erlebt. Wahrscheinlich war diese Erfahrung nur möglich, weil alles so spontan lief und wir nicht tage- und wochenlang die einzelnen Details planen und vorbereiten konnten. Der Auszug aus Ägypten war aus der Sicht und dem Erleben der Israeliten ja auch sehr spontan und abrupt, so abrupt, daß sie den Brotteig nicht gehen lassen und backen konnten. Dieser spezielle Geschmack des Seders von Hofgeismar wirkt bei mir in allen Pessach-Erfahrungen danach weiter. Und jedes Jahr, wenn wir uns zu Pessach Feiertagsgrüße schicken, erinnern wir uns an „our very special and meaningful Pessach experience in Hofgeismar“.