Unterwegs nach Emmaus – ein interreligiöser Dialog (Teil 2)

Fortsetzung von hier

An diesem Abend der interreligiösen Bibliolog-Werkstatt interessierte mich besonders, wie sich die Wahrnehmung und Auslegung des Textes verändert, wenn man das Narrativ so interpretiert, daß es eine Frau und ein Mann waren, die miteinander auf dem Weg nach Emmaus waren. Außer mir und einer jüdischen Teilnehmerin waren alle anderen Teilnehmenden an diesem Abend aus unterschiedlichen christlichen Gemeinden und kannten die Emmausgeschichte.

Emmaus modern

moderne Darstellung von Sieger Köder: Brannte uns nicht das Herz

Die meisten Übersetzungen sprechen bei Lk 24,13 von „zwei Jüngern“ und interpretieren damit. Die Elberfelder Übersetzung, Schlachter und die Bibel in gerechter Sprache übersetzen „zwei von ihnen“. Damit ist keine Aussage über das Geschlecht der beiden getroffen. Direkt im Abschnitt davon werden Reaktionen auf die Auferstehung von Jüngerinnen und Jüngern erzählt. „Zwei von ihnen“ lässt also von der Sprachlogik her verschiedene Interpretationen zu. Im weiteren Fortgang der Geschichte wird dem Leser der Namen einer der beiden Personen berichtet, nämlich in Vers 18 wird ein – männlicher – Name genannt: Kleopas. Von der Person, die mit Kleopas unterwegs ist, erfahren wir den Namen nicht. Das ist merkwürdig.
Wenn männliche Jünger mit Jesus unterwegs sind, gibt es immer wieder bestimmte Namen, die in Kombination vorkommen: Petrus und Andreas, Petrus, Johannes und Jakobus etc. Könnte diese Anonymisierung der zweiten Person ein Hinweis darauf sein, daß es sich hier um eine weibliche Person handelt?

Die Evangelien sind Jahrzehnte nach den Geschehnissen zusammengestellt und niedergeschrieben worden. Gibt es ein Interesse aus dieser späteren Zeit, Frauen eher einen Platz im Hintergrund zuzuweisen? Dazu kommt noch, daß im Johannesevangelium von mehreren Frauen erzählt wird, die unter dem Kreuz in der Nähe von Jesus blieben. Eine wird als Maria, Frau des Kleopas bezeichnet. Was läge nun näher nach diesen Pessachtagen in Jerusalem als alle wieder die Stadt verlassen, daß ein Ehepaar sich gemeinsam auf den Weg macht. Der Text lässt hier eine Lücke, und wenn ich beim Bibliolog von der Annahme ausgehe, daß es sich bei den beiden Personen, die nach Emmaus gehen, um das Ehepaar Kleopas und Maria handelt, dann muß ich das als meine Setzung in narrativer Form bei der Hinführung deutlich machen. Dies wäre eine Form von christlichem Midrasch (siehe dazu den Beitrag schwarzes Feuer – weißes Feuer im Bibliolog )

Auch erfahren wir nicht, was die beiden dazu bringt nach Emmaus zu gehen. War das ihr Wohnort – heute würde man sagen „Lebensmittelpunkt“ – bevor sie mit Jesus gingen? Es gibt mehrere Orte dieses Namens, aber eine mögliche Deutung aufgrund der angegebenen Entfernung ist, daß es sich um einen Ort handelt, dessen hebräische Namensform „chammath“ auf heiße (Heil-)Quellen hinweist. Auch dies kann ich in meine vorbereitenden Überlegungen einbeziehen und deutlich machen und daraus unterschiedliche Fragen an beide entwickeln, denn ich stelle mir vor, daß Maria, die unter dem Kreuz dabei war als Jesus hingerichtet wurde, etwas anderes erlebt hat als Kleopas, der nicht dabei war.

Interessant finde ich noch ein sprachliches Detail, mit dem es sich meiner Meinung nach lohnt, bei diesem Bibliolog zu arbeiten:

In Vers 25 sagt Jesus zu den beiden nachdem sie ihm erzählt haben, was passiert war:
»Ihr unverständigen Leute! Wie schwer fällt es euch8, all das zu glauben, was die Propheten gesagt haben! (Neue Genfer Übersetzung)
Und er sprach zu ihnen: Ihr Unverständigen und im Herzen zu träge, an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben! (Elberfelder Übersetzung)
How foolish you are, and how slow of heart to believe all that the prophets have spoken! (New international Version). Auch einige andere englische Übersetzungen sprechen von “slow of heart”.

In der NGÜ weist eine Anmerkung darauf hin, daß es im Originaltext wörtlich heißt: „Euer Herz ist zu träge“. Das macht den Gegensatz zu Vers 32 umso deutlicher, in dem es heißt:

Brannte nicht unser Herz in uns, wie er auf dem Weg zu uns redete … (Elberfelder Übersetzung)
War uns nicht zumute, als würde ein Feuer in unserem Herzen brennen, während er unterwegs mit uns sprach (Neue Genfer Übersetzung)
Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete (Einheitsübersetzung)

Im traditionellen Midrasch wird sehr stark auf sprachliche Eigenheiten des Textes eingegangen. Dies könnte man im Bibliolog aufgreifen durch den Vergleich des „trägen Herzens“ und des „brennenden Herzens“.

Beim Nachgespräch fragte ich danach, was sich in der Wahrnehmung der Emmausgeschichte dadurch verändert hat, daß ich Fragen an Maria, an Kleopas oder an sie als Paar gestellt habe und die traditionelle Wahrnehmung der zwei als Männer verändert habe.

Einige Stimmen:
– die Geschichte ist vielfältiger und vielschichtiger geworden
– ich habe die Geschichte immer als Trauergeschichte gesehen und gepredigt. In dieser Variante verliert die Trauer etwas von ihrer Schwere und bekommt durch die männlichen und weiblichen Reaktionen eine größere Vielfalt
– Es kommen mehr bunte Facetten des Lebens in diese Trauergeschichte rein
– Es gibt eine Parallele im Nichterkennen: So wie die beiden auf dem Weg nach Emmaus Jesus zuerst nicht erkennen, so erkennt ihn auch Maria von Magdala nicht, die ihn für den Gärtner hält (Anmerkung von mir: Bei einer Bibelgesprächsreihe zu Begegnungen nach der Auferstehung könnte ein Encounter zwischen Maria von Magdala und Maria und Kleopas über ihre Erfahrung des Nichterkennens sein).
– Ich habe bis jetzt immer überlesen, daß die beiden direkt nach der Begegnung mit Jesus, also in der Dunkelheit, nach Jerusalem zurückgekehrt sind. Eigentlich ist das logisch, denn biblische Nächte sind Heilsnächte
(Anmerkung von mir: In Israel gibt es keine so lange Dämmerungsphase wie bei uns in Mitteleuropa. Die Nacht bricht sehr schnell herein. Wenn also ein/e Jünger/in zu Jesus sagt: „Bleibe bei uns, denn es will Abend werden“ und die drei bleiben dann zusammen, dann ist von den geografischen Gegebenheiten davon auszugehen, daß sich die Rückkehr nach Jerusalem in der Dunkelheit der Nacht abspielte).

Am Ende hatte eine Teilnehmerin noch eine Karte einer modernen Emmaus-Ikone von Bruder Ansgar aus der Abtei Nütschau bei Hamburg dabei, in der die beiden, die mit Jesus am Tisch sitzen ein Mann und eine Frau sind. Christian Herwartz hat in seinem Kommentar zu Teil 1 dieses Beitrags Erhellendes dazu geschrieben.

Eine moderne Darstellung habe ich auf einem Weblog irischer Ordenleute, die über biblische Themen und christlich-keltische Spiritualität schreiben, gefunden, nämlich hier. Leider gibt es keine Quellenangabe dazu und keine/n Künstler/in.

Moderne Darstellung der Emmaus Geschichte vom irischen Sacred Space Weblog.

Road to Emmaus

Nach diesem Abend habe ich noch im Internet gesucht, ob es andere traditionelle oder moderne Ikonendarstellungen eines Jüngers und einer Jüngerin bei der Emmausgeschichte gibt. Dabei habe ich im deutschsprachigen Internet nichts gefunden, im englisch- und französisch sprachigen Internet gibt es einige Darstellungen, die eine männliche Person darstellen und bei der zweiten offen lassen, ob sie weiblich oder männlich ist.

Fündig bin ich auf dem Weblog von Patrick Comerford, einem anglikanischen Priester aus Irland geworden. Er schreibt über „my thoughts on spirituality, theology, history, architecture, travel, poetry and beach walks” und hat einen sehr starken Bezug zu ostkirchlicher Spiritualität und Ikonen (hier )

Emmaus-Ikonendarstellung von Sr. Marie-Paul OSB

Vielleicht hat jemand Hinweise auf traditionelle Ikonen-Darstellungen mit diesem Motiv, also Jesus mit Mann und Frau auf dem Weg nach Emmaus.

Zum Weiterlesen:
Christian Herwartz: Spiritualität und Gegenwart auf der Straße

Unterwegs nach Emmaus – ein interreligiöser Dialog (Teil 1)

Als sich Ende letzten Jahres das Jahresthema 2012 „Geschichten vom Feuer und von Feuerstellen“ für die interreligiöse Bibliolog-Werkstatt abzeichnete, war mir sehr bald klar, daß ich auch die Geschichte vom Weg nach Emmaus dazu nehmen wollte, in der es heißt: „Brannte nicht unser Herz…“ – in der NGÜ (Neue Genfer Übersetzung), die ich sehr gern verwende, heißt es: „War uns nicht zumute, als würde ein Feuer in unserem Herzen brennen“ (Lk 24,32).

Die Geschichte von den Jüngern, die Jesus auf dem Weg nach Emmaus begegnen, gehört zu den beliebtesten Texten, die in Grundkursen für den ersten eigenen Bibliolog ausgewählt werden, besonders wenn der Kurs in der Fasten- bzw. Passionszeit stattfindet. Ich empfehle den Teilnehmenden, für ihren ersten Bibliolog einen Text zu nehmen, den sie innerhalb der ersten sechs bis zehn Wochen nach dem Kurs in ihrem Arbeitsfeld durchführen können, damit sie möglichst schnell ins bibliologische Arbeiten vor Ort hineinkommen. Ich erinnere mich an einen Grundkurs im Rheinland, bei dem gleich drei Mal Emmaus gewählt wurde.

Ich halte die Emmaus-Geschichte trotz ihrer großen Beliebtheit gerade nicht für einen idealen Anfängertext, denn wegen des Umfangs muß sehr genau überlegt werden, wo und wie paraphrasiert wird, also welcher Textteil erzählt wird, wie diese Erzählung gestaltet wird, und wie man wieder in den Text an sich eintaucht und liest bevor eine Frage gestellt wird. Das hängt auch davon ab, für welche thematische Linie man sich entscheidet: Legt man den thematischen Schwerpunkt auf den Aspekt der Begegnung wird das anders sein, als wenn man sich auf den Aspekt der Trauer und des Trauerprozesses konzentriert. Dies sind die häufigsten Varianten, wobei ich mit diesem Text auch schon einen Bibliolog zum Thema „Jesus als Seelsorger“ erlebt habe.
Beim Erleben der Bibliologe fiel mir auf, daß bei mir teilweise völlig andere Bilder auftauchten und präsent waren als bei den christlichen Bibliologen. So war für die Christen bei der Rollenauswahl immer völlig klar, daß es sich bei den beiden Personen, die nach Emmaus unterwegs waren, um zwei Männer handelt. In der westlichen christlichen Kunst finden sich viele solcher Darstellungen. Diese Bilder prägen dann auch die Wahrnehmung . Hier ist eines von Michelangelo Caravaggio:

Michelangelo Caravaggio: Christus in Emmaus

Je öfter ich aber diesem Text begegnet bin, desto klarer wurde für mich, daß es sich bei den beiden um eine Frau und einen Mann handelt. Ich kann diese Sichtweise nicht rational begründen. Deshalb habe ich mich gefragt, ob das vom Textbestand her legitim ist oder ich etwas an die Geschichte und damit an eine andere Tradition herantrage, was nicht darin enthalten ist. Das würde dann bedeuten, daß ich respektlos mit anderen Traditionen umgehe. Gerade für das interreligiöse Gespräch ist diese Fragestellung von großer Bedeutung und Bibliolog ist ein sehr hilfreiches „Werkzeug“ um unterschiedliche Wahrnehmungen zu thematisieren.

Wir alle haben unsere Wahrnehmung von anderen Kulturen und Religionen. Wie nah diese Wahrnehmungen an der Lebenswirklichkeit der jeweiligen Kultur oder Religion dran sind ist eine eigene Frage. Im Extremfall kann es sich um Fehlwahrnehmungen, Klischees, Vorurteile und Stereotypen handeln. Man kann es eigentlich nur herausfinden, wenn man die eigene Wahrnehmung mit den anderen ins Gespräch bringt und daraus dann Konsequenzen zieht.

Wie aktuell die Frage nach der Fremdwahrnehmung und der Selbstwahrnehmung werden würde, konnte ich bei der Vorbereitung dieses Bibliologs noch nicht ahnen. Einige Tage vorher ging ich zum Treffen einer interreligiösen Frauengruppe. Ich kenne die Gruppe flüchtig und bin dort ein oder zwei Mal im Jahr. Es handelt sich um muslimische und christliche Frauen, die sich monatlich treffen. Im Herbst wollen sie ein interreligiöses Kochbuch herausbringen. Deshalb wird dieses Jahr vor und zu jedem Treffen gekocht. Davon wusste ich nichts, und just war das Thema des Treffens, zu dem ich auftauchte „Rezepte aus der Bibel“. Ein vergriffenes Buch mit diesem Titel lag auch da, und der Tisch war reich gedeckt – nur für mich nicht. Ich saß vor einigen Salatblättern und Weintrauben, die als Dekoration mitgebracht worden waren, denn was die biblischen Kochbücher, egal welchen Titel sie haben, „Kochen mit der Bibel“ oder „biblisch kochen“ oder nun „Rezepte aus der Bibel“ alle nicht im Blick haben ist, daß die Mehrzahl der biblischen Personen Juden und Jüdinnen waren und sich an die Speisegebote ihrer Religion gehalten haben.

Screenshot: http://www.biblisch-kochen.de

Mehr dazu hier oder meine Rezension hier. Ich war nun in der merkwürdigen Situation, daß ich an einem Tisch mit „biblischen Speisen“ saß, aber als Jüdin die Mehrzahl dessen, was da stand, nicht essen konnte, weil Milch und Fleisch in diesen Speisen zusammen verwendet wurden, was in der jüdischen Küche strikt getrennt wird. Sogar ein „Passa-Lamm“ war aufwendig und liebevoll zubereitet worden. Die christliche Frau, die sich die Arbeit gemacht hat und sicher viele Stunden damit in der Küche zugebracht hatte, war extra zum türkischen Metzger gegangen, damit das Fleisch auch „halal“, also für die muslimischen Frauen essbar ist. Als „Passa-Lamm“, also als Gericht, das während der Pessach-Woche gegessen wird, wäre es untauglich gewesen, denn es war mit Cidre zubereitet worden. Während Pessach wird nur Ungesäuertes gegessen. Das bezieht sich nicht nur auf Brot, Kuchen, Nudeln, Müsli und sonstige Backwaren, sondern auch Cidre, Bier und andere gegorene Getränke, ja unter Umständen auch auf Alkohol in Kosmetika oder Medikamenten. Eine Muslima wollte dann von mir wissen, warum ich mich auf Obst und Gemüse beschränke. Als ich ihr nun erklärte, was für mich essensmäßig geht und was nicht, reagierte sie sehr interessiert und verständnisvoll.

Die Reaktion von zwei christlichen Frauen, die beide in einer kirchlichen Kindertagesstätte arbeiten, haben mich jedoch sehr verblüfft: Die Köchin des Lammes meinte harsch: „Kann doch jeder machen wie er will“. Recht hat sie, wenn es um ihr Osterlamm geht. Da ist es mir völlig egal, ob sie es mit Thymian oder Rosmarin würzt, mit Calvados, Cidre oder Rotwein ablöscht, und meinetwegen auch gern mit saurer Sahne oder Schmand abschmeckt, aber beim „biblischen Kochen“ finde ich es fehl am Platz. Die andere Erzieherin kommentierte: „Was bin ich froh, daß ich mich mit so was nicht rumschlagen muß“. Keine Viertelstunde später besprachen die beiden, was für die nächste mehrtägige Kindergartenfahrt im Hinblick auf die muslimischen Kinder essenstechnisch zu berücksichtigen sei. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn ich in Gruppen bin und dort wenig oder nichts mitessen kann, aber wenn es „biblisches Essen“ gibt und ich wenig oder nichts mitessen kann, dann empfinde ich das ausgrenzend und respektlos.

Für meine Bibliolog-Vorbereitung zur Emmausgeschichte macht mir das sehr deutlich, wie ich mit anderen und ihren religiösen Traditionen nicht umgehen möchte. Diese Erfahrung hat mir einmal mehr gezeigt, daß Judentum und Islam sich in Alltagsvollzügen näher sind als Judentum und Christentum.
Fortsetzung folgt: Teil 2 ist hier