Heute werden wieder die Rosenmontagszüge im Fernsehen ausgestrahlt. In meiner Kindheit war am Rosenmontag und am Faschingsdienstag schulfrei, weil meine Schule dafür die beiden Verfügungstage nutzte. Das verlängerte Faschingswochenende verbrachte ich bei meinen Großeltern. Am Montag gehörten die Faschingszüge zum Pflichtprogramm, weil mein Großvater sie so gern anschaute. Mich interessierten nur die Mottowagen, die aktuelle politischen Ereignisse aufs Korn nahmen. Später habe ich von den Rosenmontagszügen nur mitbekommen, was davon in der Tagesschau gebracht wurde.
Seit letztem Jahr schalte ich nun wieder den Rosenmontagszug aus Köln ein, der im WDR übertragen wird und zwar, weil der am Chlodwigplatz beginnt und erst einmal durch das Severinsviertel führt. Mir gefällt das bunte Treiben. Die Erzählungen, Interviews und Erläuterungen der Moderatoren finde ich sehr gelungen. Ich kann zwar die emotionale Bedeutung von Karnevalgesellschaften und ihren Sitzungen nicht nachvollziehen, aber für mich hat es einen gewissen Lokalkolorit seit ich Bibliolog-Kurse in der Melanchthon-akademie gebe, die in der Kölner Südstadt liegt. Diese Straßen, die ich im Alltagsgewand kenne, nun im bunten Faschingstreiben zu sehen – das hat was.
Eben erzählte einer der Moderatoren, daß die Karnevalsgesellschaft, die im Bild erscheint, ihre Sitzungen im Gürzenich abhält. Gürzenich war mir überhaupt kein Begriff bis zum Jahr 2007. Ich war Mitwirkende beim evangelischen Kirchentag im Zentrum Juden und Christen, das in der Kölner Altstadt seinen Ort hatte, weil dort noch Spuren jüdischen Lebens zu finden sind. „Gürzenich“ stand auf dem Programmzettel, der mir als Ort für den jüdisch-christlichen Bibliolog, den ich mit einem evangelischen Trainerkollegen halten sollte, zuging.
In der Wikipedia hieß es zu diesem Ort:
Der Gürzenich ist eine Festhalle im Zentrum der Kölner Altstadt. Namensgeber ist die Patrizierfamilie von Gürzenich, auf deren Grundstück das Profanbauwerk im 15. Jahrhundert errichtet wurde. Heute wird der Gebäudekomplex für Konzerte, Kongresse, Gesellschafts- und Kulturveranstaltungen genutzt.
Damals im Juni 2007 war Bibliolog in Deutschland noch kaum bekannt. Wir wollten diesen Zugang vorstellen und spezieller darauf eingehen, wie er für den jüdisch-christlichen Dialog fruchtbar gemacht werden kann. Und Ort des Geschehens war – genau: „der Gürzenich“. Wir waren für einen Kellerraum eingeteilt worden. Als ich den Saal betrat, traf mich fast der Schlag: Kellergewölbe, kein Fenster, gut und gern 200 Plätze und haufenweise Glasvitrinen, in denen alles Mögliche ausgestellt war, was mit Karneval zu tun hat. Karneval dominierte diesen Raum und es gab keine Möglichkeit daran etwas zu verändern. Auch mit dem Licht waren kaum Varianten möglich: Schummerlicht oder Festbeleuchtung. Gut, Stühle konnte man stellen, was wir dann auch taten, wobei wir überhaupt nicht wußten, mit wievielen Leuten wir rechnen sollten. Klar war aber, daß der Raum mit Sicherheit zu groß ausgelegt war. Ich kann mir nur schwer einen Raum vorstellen, der noch weniger geeignet ist für Bibliolog als dieser Kellerraum im Gürzenich.
Zu unserem Angebot kamen sechzehn Teilnehmende. So kleine Gruppen für bibliologisches Arbeiten bei einer Großveranstaltung wie Kirchentag gehören inzwischen der Vergangenheit an. An die inhaltlichen Details des Bibliologs erinnere ich mich nur noch schwach, aber die Atmosphäre ist mir sofort präsent, wenn ich das Stichwort „Gürzenich“ höre. Es war gar nicht so einfach, die Gruppe in biblische Zeiten ans Ende der Wüstenwanderung der Israeliten kurz vor dem Einzug ins Land der Verheißung zu führen. Als ich dann meine Hinführung so gestaltet hatte, klopfte es lautstark an die Tür. Zwei Nachzügler betraten den Raum und fragten: „Ist hier der Bibliolog“, was ich durch einen Zettel an der Tür bekannt gemacht hatte. Ich verdrehte innerlich die Augen und dachte: Wenn die Leute schon zu spät kommen, warum können die das nicht störungsfrei gestalten und sich einfach hinsetzen. Manchmal kommt einfach viel zusammen. Der Bibliolog war anregend und lief dann trotz der schwierigen Rahmenbedingungen gut.
Denjenigen, die dabei waren, hat es gefallen. Einige habe ich später in meinen Grundkursen wieder getroffen. Für mich war die prägende Erfahrung: Bibliolog geht – wenn es sein muß – sogar an sehr dafür ungeeigneten Orten.